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Aktuelles
Rauhnacht
Es war eigentlich so wie immer. Er hatte sich auf den Weg gemacht und
freute sich auf seine Freunde und ein lustiges Zusammensein.
Unzählige Male war er diesen Weg, der seinen Wohnort mit der großen
Stadt an der Donau verband, in den letzten Jahren gegangen. Er freute
sich an den Bäumen und Wiesen am Wegesrand und an dem kleinen
Bach, der ihn zur rechten Hand begleitete. Es war später Nachmittag
und jetzt, zu dieser Jahreszeit, wurde es früh dunkel. Doch er war ja bald
am Ziel.
Auf einmal setzte ein Rascheln und Raunen um ihn ein und er verlang-
samte seinen Schritt.
„Wie ist es dir denn im letzten Jahr ergangen?“ Hörte er eine tiefe Stim-
me fragen. „Ach, nicht so gut. Meine Haut schmerzt von den langen
Eisenarmen, die regelmäßig an mir vorbei ziehen und meine Wurzeln
sind so durstig von dem weißen Pulver im vergangenen Winter.“
Er blieb stehen. Neben ihm stand eine alte Erle am Bachrand und in Ih-
rer Krone saß ein großer Greif mit gespreizten Flügeln. Konnte das sein?
„Ich hab Dich das ganze Jahr nicht gesehen. Wo warst Du denn?“ Das
musste die sanfte Stimme der Erle sein.
„Seit das schwarze Band der Weg ist habe ich hier keine Mäuse mehr
gefangen und deshalb meinen Horst in den nahen Bergen gebaut. - Mir
fehlen deine alten Brüder und Schwestern, in deren Kronen ich unbe-
merkt nach Futter Ausschau halten konnte.“ Antwortete der Greif.
„Das glaube ich gerne! Gut drei Dutzend sind in den letzten Jahren dem
großen Messer zum Opfer gefallen und Kinder gibt es nicht.“ Klang
traurig die Erle.
„Als ob das nicht schon schlimm genug wäre!“Hörte er eine weitere
helle Stimme zu seinen Füßen. Da saß ein Hermelin im weißen Winter-
fell. Er hatte ihn im Jahr zuvor schon einmal gesehen, als dieser fröhlich
vor ihm her hüpfte und dann mit lustigen Sprüngen im Gebüsch ver-
schwunden war.
„Ich trau mich nicht mehr über das schwarze Band – es war im Sommer
so heiß, dass ich mir die Pfoten verbrannt habe und die schnellen Räder,
die vorbei rauschen, machen mir Angst.
Dreimal kamen im Herbst blinkende Autos und haben Fahrer der
schnellen Räder aufgesammelt, weil die Blätter naß und glatt auf dem
schwarzen Band liegen und wenn es regnet dann spritzt es fürchter-
lich.“
„Du bist gut – du brauchst gar nicht zu klagen!“ klang es ganz aufge-
bracht. Wer war denn das jetzt? Neben dem Hermelin hatte sich eine
Weinbergschnecke aus Ihrem Haus gewagt. Wo kam die denn zu dieser
Jahreszeit her?
„Ein großer Teil meiner Verwandtschaft kam unter die schnellen Räder
und im Sommer konnte ich nicht zum kühlen Wasserrand – es war zu
heiß. Wie schön war es doch, als ich noch behutsam aufgehoben und
sanft auf der anderen Wegseite abgesetzt wurde – jetzt sind alle so
furchtbar schnell!“
„Nun, vielleicht gibt es ja noch Hoffnung.“ Meldete sich die alte Erle
wieder. „Da vorne auf der großen Wiese macht sich eine junge Ver-
wandtschaft ans Heranwachsen und – vielleicht – in 20 Jahren oder so
wird das schwarze Band wieder abgebaut weil es so heiß ist und auch
die schnellen Räder in der Hitze und ohne Schatten keine Freude mehr
bereiten.“
„Und was machen wir bis dahin? Fragte der Hermelin? „Wir können nur
warten, dass die Zeit vergeht.“ Erwiderte bedeutsam die Schnecke.
Auf einmal hörte er Musik und lautes Lachen – seine Freunde begrüßten
ihn herzlich.
Als er nach ein paar Stunden auf dem Heimweg war, dachte er nicht
mehr an das Gehörte. Alles war wie unzählige Male vorher. Die Bäume
rauschten leise, der Bach murmelte und sonst war es still. Unter seinen
Füßen knirschte Sand. Es war Rauhnacht –und ihm war seltsam traurig
zumute.
Fotos und Text: Alma Goß
- 8 - B16 aktuell Dezember 2019